Die Klebtechnik wird aktuell oft als Gegenspieler ökologischer Entwicklungen gesehen. Ein grosser Irrtum, sagt dazu Professor Dr. Andreas Gross. Die Klebtechnik müsse im Kontext einer Kreislaufwirtschaft als Schlüsseltechnolgie betrachtet werden. Der Abteilungsleiter „Weiterbildung und Technologietransfer“ am Fraunhofer IFAM in Bremen erklärt im Interview weshalb.
Der im EU-Aktionsplan Kreislaufwirtschaft beschriebene Übergang von der Linearwirtschaft („Wegwerf-Wirtschaft“) in eine Kreislaufwirtschaft wird leider in der landläufigen Betrachtung und politischen Bewertung fälschlicherweise oft auf das Thema „Recycling“ reduziert. „Der Aktionsplan Kreislaufwirtschaft gibt hinsichtlich der ökologischen Nachhaltigkeitsbewertung insgesamt einen umfassenden, ganzheitlichen Ansatz vor und fokussiert sich nicht auf Einzelelemente wie z.B. „Recycling“, so Andreas Gross. Die neun R-Strategien der EU-Kommission sind der Wegweiser für eine Verknüpfung von Ökodesign und Kreislaufwirtschaft. In diesem Kontext ist die Klebtechnik schon heute – mit ihren herausragenden Beiträgen, die für eine technologisch, gesellschaftlich und politisch richtige Einordnung berücksichtigt werden müssen – Verbündeter und nicht Gegner.
Herr Gross, in der Öffentlichkeit und Politik wird die Klebtechnik aktuell eher als Gegenspieler ökologischer Entwicklungen gesehen. Begründet wird das u.a. mit Aussagen, Kleben stehe einer Kreislaufwirtschaft grundsätzlich entgegen, geklebte Produkte könne man nicht reparieren, Klebungen seien nicht recyclingfähig und deshalb nicht zukunftsfähig…
Andreas Gross: …dreimal falsch! Aber fangen wir bei der ersten Aussage an. Dazu müssen wir zunächst das übergeordnete Ziel einer Kreislaufwirtschaft betrachten. Dieses besteht darin, zur Optimierung der Öko-Effizienz Wertstoffe so lange wie möglich im Wirtschaftskreislauf zu halten. Auf diesem Weg wird das notwendige Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt.
Da ist Recycling doch der richtige Weg. Die in Produkten verwendeten Werkstoffe werden wieder aufbereitet und stehen für neue Produkte zur Verfügung. Wirtschaftswachstum wird also vom Ressourcenverbrauch entkoppelt…
Gross: …und genau so funktioniert es nicht! Diese fahrlässig vereinfachende Betrachtung führt in eine falsche Richtung. Eine Fokussierung auf ein Einzelthema, hier auf das „Recycling“, reduziert die Komplexität des eigentlichen Ziels einer Kreislaufwirtschaft in sträflich unzulässiger Weise. Um es hier deutlich zu sagen: Ich spreche mich nicht gegen Recycling aus. Aber die Reduzierung auf diesen Einzelaspekt ist falsch und für eine sinnvolle „Kreislaufwirtschaft“ sogar kontraproduktiv.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Gross: Die Windenergie ist dafür gut geeignet: Die Rotorblätter der Windenergieanlagen sind aus glasfaserverstärkten Kunststoffen (GFK), d.h. aus klassischen Leichtbauwerkstoffen, gefertigt. Es sind rein geklebte Konstruktionen, und das hat aus verbindungstechnischer Sicht gute Gründe. Schweissen scheidet aus, da GFK nicht schweissfähig ist. Punktuelle Verbindungen der GFK-Rotorblatthalbschalen wie Verschraubungen, Nieten oder Nageln sind ebenfalls keine Option, denn sie würden an den Verbindungspunkten nicht nur den GFK-Leichtbauwerkstoff durch „Löcher“ zerstören, sondern an den Verbindungsstellen – bei den extremen mechanischen Belastungen im Betrieb – aufgrund zu hoher Spannungen zum Versagen des GFK-Werkstoffs führen. Um diese Spannungen auszugleichen, müsste der GFK der Leichtbau-Rotorblattwände stark verdickt werden. Damit würden sie aber so schwer, dass Strom aus Windenergie eigentlich kein Thema mehr wäre. Fokussiert man sich also auf die werkstoffliche GFK-Recyclingunfähigkeit in Verbindung mit den angeblich recyclingverhindernden klebtechnischen Verbindungen, wäre die logische Konsequenz, GFK und die Klebtechnologie bei Rotorblättern zu verbieten. Ob wir dann in Zukunft die Windenergie noch als regenerative Energietechnologie einsetzen würden, wäre für mich mehr als fraglich.
Wie sollte man nun das Kleben im ganzheitlichen Ansatz der Kreislaufwirtschaft betrachten?
Gross: Für eine kreislaufwirtschaftsrelevante „Ökobilanzwirksamkeit“ der Verbindungstechnik „Kleben“ ist zunächst die EU-Abfallrahmenrichtlinie ein zentraler Baustein. Dort steht an oberster Stelle eben nicht das Recycling. An oberster Stelle steht die Vermeidung von Abfall. Erst dann folgen die Verwertung von Abfall, d.h. die Vorbereitung zur Wiederverwertung, dann das Recycling und dann die sonstige, z.B. organische Wiederverwertung. Zum Schluss kommt die Beseitigung von Abfall. Für diese – ich betone es ausdrücklich – sehr durchdachte Rahmenrichtlinie besteht das ganzheitliche Kernkonzept in Form der R-Strategien. Werden diese, z.B. auf die Rotorblätter der Windenergieanlagen angewendet, wird klar, dass die ökologischen Vorteile in der Nutzung die ökologischen Nachteile des „End of Life“ wohl überwiegen dürften.
Es hat den Eindruck, dass die „R-Strategien“ noch nicht den Bekanntheitsgrad haben, den sie verdienen. Was verbirgt sich dahinter?
Gross: Das ist schade und gleichermassen ein Problem, denn sie sind einerseits ein geeigneter Ansatz zur zukünftigen Technologiebewertung und andererseits ein Leitfaden, den Technologieeinsatz in Produkten neu und zukunftsorientiert zu denken. Wir haben also einen sehr zukunftsorientierten Ansatz, und das wird schon deutlich, wenn wir die Gliederung der neun R-Strategieeinzelelemente betrachten: R1-Refuse, R2-Rethink, R3-Reduce, R4-Reuse, R5-Repair, R6-Refurbish, R7-Remanufacture, R8-Repurpose und R9-Recycle. Das heisst aber auch, die Transformation in Richtung Kreislaufwirtschaft besteht nicht nur aus dem Einzelelement „R9-Recycling“, sondern umfasst definitiv weit mehr. Zudem steht „R9-Recycling“, kommissionsseitig vorgegeben, erst an letzter Stelle. Die EU-Kommission hat die anderen R-Strategieeinzelelemente R1-R8 dem Recycling bewusst vorangestellt.
Was bedeuten die R-Strategieelemente jetzt im Kontext zum Kleben bzw. welche Impulse geben sie?
Gross: Fangen wir mit R1-Refuse an, also ein Produkt verweigern. Das ist ein technologieunspezifisches, übergeordnetes R-Strategieelement und mündet in die Frage: Brauchen wir das Produkt überhaupt? Da beginnt dann im Mindset einer „Überflussgesellschaft“ schnell ein Paradigmenwechsel.
R2-Rethink hat viele Aspekte und führt z.B. zur intensiverten Nutzung eines Produkts, etwa durch dessen längere Haltbarkeit. Durch die nachweisliche Langzeitbeständigkeit von Klebungen verlängert sich, z.B. für die im Folgenden genannten, hochgradig und notwendigerweise geklebten Produkte, die Lebenszyklusphase „Nutzung“. So steigt die durchschnittliche Lebensdauer eines Autos stetig. Die Gesamtfahrleistung eines ICE bei einer projektierten Lebensdauer von 40 Jahren und einer Jahresfahrleistung von 500.000 km beträgt 20 Mio. km. Flugzeuge fliegen bis zu 30 Jahren und werden dafür regelmässig überwacht und instandgesetzt. Windenergieanlagen sind auf 25 Jahre ausgelegt. Die Verbesserung der Produktlanglebigkeit zum Erhalt der Rohstoffe innerhalb des Kreislaufsystems – wozu die Klebtechnik signifikant beiträgt – gehört im Sinne des Strategieelements R2-Rethink mit zu den wirksamsten ressourceneffizienten Ökodesignstrategien.
Wie passen jetzt Kleben und R3-Reduce kreislaufwirtschaftsmässig zusammen?
Gross: Sehr gut! Nehmen wir den Leichtbau – hier erreichen wir die gleiche Funktionalität mit weniger Material. Diese Bauweise zählt zu den wirksamsten Ökodesignstrategien zur Ressourcenschonung, Energieeinsparung in der Produktnutzung und Abfallvermeidung. Die Klebtechnik ist eine der wichtigsten Fügetechnologien zur Umsetzung des konstruktiven und werkstofflichen Leichtbaus. Ihre Einzigartigkeit, alle Werkstoffe mit sich selbst und mit anderen langzeitbeständig und sicher zu verbinden und dabei gleichzeitig Werkstoffeigenschaften – hier die Leichtbaueigenschaften – im Produkt zu erhalten, stellt demzufolge für R3-Reduce einen Schlüssel für die Kreislaufwirtschaft dar.
R3-Reduce steckt aber auch im Trend zur Miniaturisierung. In der Elektronikfertigung steigen die Funktionalitäten ständig und erfordern immer kleinere Dimensionen. Hier sind Spezial-Klebstoffe zwingend erforderlich. Die kleinen Dimensionen können andere Verbindungstechniken nicht leisten. Die dafür entwickelten Klebstoffe dagegen verbinden in Miniaturbauteilen werkstofferhaltend, schnell, sicher, langzeitbeständig und hochpräzise auf kleinstem Raum völlig verschiedene Werkstoffe. Sie fixieren Spulen und dichten Gehäuse ab. Sie schützen im Hochzuverlässigkeitsbereich als Chip-Vergussmassen feine Chipstrukturen und Drähte vor mechanischen Belastungen wie Vibrationen, sie schützen vor thermischen Belastungen durch Temperaturschwankungen, vor Umwelteinflüssen wie Feuchtigkeit und auch vor Korrosion. Dies kann mit anderen Fügetechniken nur mit deutlich höherem Aufwand oder gar nicht realisiert werden. In diesen Beispielen steckt auch sehr viel Rethink, was erst durch das Kleben möglich wird, und zeigt, dass man die Strategieelemente auch vernetzt nutzen sollte.
Kommen wir zu R4-Reuse, R5-Repair, R6- Refurbish, R7-Remanufacture und R8-Re-purpose. Wie sieht es hier kreislaufwirtschaftsmässig aus?
Gross: Bei diesen R-Strategieelementen lege ich den Schwerpunkt auf R5-Repair. Eine Reparatur verlängert die Produktnutzung. Rohstoffe werden länger im Kreislauf gehalten. Kleben ist das am häufigsten eingesetzte Reparaturverfahren, auch bei nicht geklebten Produkten. So werden bereits seit Jahrzehnten in Verkehrsmitteln eingeklebte, defekte Scheiben entfernt. Neue Scheiben werden nach vorgegebenen, erprobten Verfahren eingeklebt. Der Aus- und Einbau der Scheiben ist bereits in der Konstruktion berücksichtigt. Das ist Stand der Technik. Dieses Beispiel ist grundsätzlich auf nahezu alle anderen klebtechnischen Anwendungsbereiche wie Schiffsbau, Optik, (Zahn-)Medizin, Medizintechnik, Haushaltsgeräte, Mobiltelefone (Displayscheiben), Akustikindustrie, Schuh- und Sportartikelindustrie und viele mehr übertragbar.
Eine verbreitete Meinung ist ja, dass geklebte Produkte nicht oder nur schwer recyclingfähig sind. Wie bewerten Sie diesen Aspekt?
Gross: Auch bei ökologisch innovativstem Produktdesign und maximal optimierter Herstellung und Nutzung werden Produkte nach einer möglichst langen Produktlebenszyklusphase „Nutzung“ zu Abfall. Warum? Der Aufwand für R4-R8 wird wegen zusätzlichen Verbrauchs an Materialien und Energie zu hoch und ist dann ökonomisch und – noch mehr – ökologisch unsinnig.
Und beim Thema „Recyclingfähigkeit“ müssen wir heute stark zwischen Fakten und Wahrnehmung bzw. schlimmstenfalls „Fake“ unterscheiden. Zunächst die Fakten: Alle Verbindungen können wieder gelöst werden, auch Klebungen. Denn der Werkstoff bestimmt die Recyclingfähigkeit, nicht die Verbindungstechnik.
Dass die technologisch-fachlich richtige Einordnung der Klebtechnik als „nichtlösbare Verbindungstechnik“ landläufig und politisch leider falsch verstanden wird, ist ein Thema, mit dem sich die Klebtechnikbranche kommunikativ auseinandersetzen muss. Auch das Kleben ist nicht davor gefeit, dass eine Technologie durch „Halbwissen“ oder andere Absichten zerredet wird. Die inzwischen vielbeschworene „Technologie-Offenheit“ – eine Basis für Rethink – mündet letztlich auch in die Frage, wohin „Technologie-Offenheit“ führt, wenn Technologien nicht mehr auf der Basis von Fakten und sinnvollen Regeln, wie z.B. dem bewährtem, risikobasierten Regulierungsansatz im Rahmen der europäischen Chemikalienstrategie, bewertet werden.
Ist die Klebtechnik nun ein Gegner oder ein Verbündeter einer Kreislaufwirtschaft?
Gross: Ein „Verbündeter“ – denn die Klebtechnik muss im Kontext einer Kreislaufwirtschaft als Schlüsseltechnologie betrachtet werden. Zur Optimierung der Öko-Effizienz werden Werkstoffe klebtechnisch langzeitbeständig und sicher verbunden, für ein werkstoffliches Recycling anschliessend wieder voneinander getrennt. Von daher, entgegen der falschen öffentlichen und politischen Einschätzung, ist Kleben – sowohl insgesamt als auch im Zusammenhang mit Recycling – eine ökologische und der Kreislaufwirtschaft nicht im Wege stehende Technologie.
Was muss jetzt passieren?
Gross: Hier sehe ich auf verschiedenen Ebenen Handlungsbedarf: Produzierende Unternehmen müssen die Klebtechnologie im Kontext zu den R-Strategien an vielen Stellen ganzheitlicher bewerten und ggf. neu denken. Das Potenzial und der Nutzen für zukunftssichere und erfolgreiche Produkte werden hoch sein – es lohnt sich also.
Die Politik muss wieder ganzheitlich denken, bewerten, einordnen und handeln. Schon das Beispiel Windenergieanlagen zeigt, dass bei ganzheitlicher Betrachtung – Stichwort „R-Strategien“ – der ökologisch viel grössere positive Impact in der Nutzung den ökologisch viel kleineren Nachteil der werkstofflichen Recyclingunfähigkeit locker übertrifft. Das lässt sich auch auf viele andere Anwendungsbereiche der Klebtechnik übertragen. Die vorherrschende Fokussierung auf Details als Entscheidungsgesamtgrundlage muss folglich aufhören. Recycling ist hier ja nur ein Beispiel. Sinnvolle Technologiebewertung und politischer Dogmatismus, das geht nicht zusammen.
Die Klebtechnik ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl erforderlicher Werkstoffe eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts – technologisch, ökologisch und ökonomisch. Dies muss endlich bei allen Entscheidern in Industrie und Politik bis hin zu Endverbrauchern ankommen. Hier ist dann auch die weltweit führende deutsche Klebstoff- und Verarbeitungsindustrie gefordert. Und wenn alle Verantwortlichen mehr handeln und weniger reden, wird uns die Klebtechnik als technologischer Verbündeter in vielerlei Hinsicht Türen öffnen – auch solche, die wir heute noch gar nicht sehen. Das „21. Jahrhundert“ dauert ja noch ein paar Jahrzehnte.
Kontakt
IFAM Fraunhofer Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung
D-28359 Bremen
+49 421 2246-0
www.ifam.fraunhofer.de