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Digitalisierung beinhaltet learning by doing

Digitalisierung ist unauflöslich verbunden mit dem Nachhaltigkeitsstreben der Kunststoff Industrie. Das Umstellen von einer linearen Wirtschaft auf eine zirkuläre allein genügt jedoch nicht, um nachhaltig und klimaneutral zu werden. Die Realität ist weitaus komplexer.
Bild 1: Die MarketPlace-Plattform ist ein digitaler Arbeitsraum für die Materialmodellierung in all ihren Aspekten, einschliesslich der Nachhaltigkeit. (Bilder: zvg)

Digitalisierung ist unauflöslich verbunden mit dem Nachhaltigkeitsstreben der Kunststoff Industrie. Das Umstellen von einer linearen Wirtschaft auf eine zirkuläre allein genügt jedoch nicht, um nachhaltig und klimaneutral zu werden. Die Realität ist weitaus komplexer.

Von Prof. Dr. Rudy Koopmans, PICC Direktor, Passage du Cardinal 1, 1700 Fribourg

„Ready Player One“ ist ein 2018 veröffentlichter Steven Spielberg Science-Fiction-Film, der die Abenteuer von Individuen erzählt, die aus einer dystopischen Realität in eine virtuelle Spielwelt flüchten. In jüngerer Zeit kündigte Facebook-(jetzt Meta-)Gründer Mark Zuckerberg seine Pläne an, ein „Metaverse“ zu schaffen. Das Konzept, das reale Leben mit dem virtuellen Leben zu verschmelzen, indem die Grenzen zwischen physischen und digital geschaffenen Realitäten zunehmend verwischen, soll zu einem kommerziellen Ziel werden. Das Individuum kann dann neu geschaffene Welten als neue digitale Selbstinkarnation, als Avatar, erleben. Hinter diesen populären, sichtbarsten Publikationen und Aussagen, die die Phantasie der Menschen ansprechen, verbergen sich komplexe technologische Entwicklungen, die von einer Industrie, bestehend aus wenigen sehr grossen Konzernen und einer Vielzahl kleiner und mittlerer Unternehmen vorangetrieben werden. Die Digitalisierungsbranche hat sich auf alle sozioökonomischen Aktivitäten weltweit ausgewirkt. Diese Industrie wurde zum Kreislaufsystem, das den Fluss der Bits und Bytes reguliert, die es der Gesellschaft ermöglichen, zu funktionieren.

Neben einer Vielzahl von publizierten und popularisierten Spielen, enhanced und virtual reality, Künstlicher Intelligenz, Industrie 4.0, sozialen Netzwerken, Konferenz-Moderation, Robotik und vielem mehr gibt es eine einzigartige zugrunde liegende Motivation, die die Digitalisierung der Welt vorantreibt. Der Hauptzweck besteht darin, Geräte zu entwickeln, die physische Aufgaben ausführen, die über die menschlichen Fähigkeiten hinausgehen. Digitalisierung ist also viel mehr als Digitisierung, d.h. letztere kopiert die statischen und verfügbaren Informationen in ein digitales Format. Digitalisierung ist der „Daten“-Teil der Digitalisierung. Digitalisierung zielt auf die Emulation der Dynamik des Gehirns ab. Einfach ausgedrückt, geht es bei der Digitalisierung um die Verknüpfung oder den Aufbau funktionaler Beziehungen auf der Grundlage massiver und vielfältiger Datensätze (vergangene und gegenwärtige sensorische Inputs/Informationen), um Handlungsoptionen oder -szenarien zu generieren, die eine zuvor gestellte Fragestellung adressieren. Die zugrunde liegende Mathematik operiert in Form von Algorithmen, die Millionen von möglichen Beziehungen zwischen den verfügbaren Datensätzen generieren können. Jederzeit, bei Änderung der Datensätze, können die gefundenen Beziehungen angepasst werden. Der Kontext oder die Randbedingungen für die ausgewählte Fragestellung helfen, die Beziehungen zu kuratieren und auszuwählen, die am besten als entsprechende Lösungen in Frage kommen. Die ultimative Unterscheidung wird durch einen tatsächlichen Matching-Test ausgelöst, d.h. eine Überprüfung, um herauszufinden, ob die vorgeschlagene Lösung das erwartete oder gewünschte Ergebnis geliefert hat. Ein solcher Test liefert neue Daten (Feedback) darüber, wie erfolgreich die gewählte Option ist und bildet die Grundlage für die Anpassung der Beziehungen. Mit anderen Worten, Digitalisierung beinhaltet learning by doing, d.h. die Verwendung faktischer Erfahrungen (Datensätze), die dynamisch kombiniert werden (Beziehungen) können, um zukünftiges erfolgreiches Handeln (Optionen) zu ermöglichen. Megaschnelle Berechungen, machen den gesamten Prozess interaktiv, reaktionsschnell und lebensecht. Diese verdeckten Abläufe erwecken den Eindruck, dass bestimmte Computer (z.B. in der Gestalt von Robotern) bewusste Entscheidungen treffen können. Der eigentliche Vorteil ist jedoch, dass schnelle Hardware und intelligente Algorithmen in sehr kurzer Zeit weit mehr (dynamische) Datensätze verarbeiten und verarbeiten können, um Antworten zu definieren, die Aktionen (Antworten) – physisch oder virtuell – steuern und das Feedback erfassen können. Das Feedback definiert neue Informationen, die als Input dienen, um optimierte Beziehungen zu generieren, die wiederum besser angepasste Aktionen bieten.

Kunststoff

Bild 2: Vereinfachtes Prozessdiagramm zur Herstellung eines Keramikteils aus einer hochgefüllten Polymerverbindung

Heute und seit Beginn ihres exponentiellen Wachstums in den 1950er Jahren steht die Kunststoffindustrie vor ihrer grössten Herausforderung, nämlich sich neu zu erfinden, um in weniger als 30 Jahren nachhaltig und klimaneutral zu werden. Der Druck der Konsumenten und der Gesetzgebung nimmt dabei beständig zu und zwingt die Industrie (schnell) zu überdenken, wie einst sehr erfolgreiche Kunststoffe fortbestehen und das Material der Wahl bleiben können, um die Funktionsfähigkeit einer wachsenden globalen Bevölkerung abzusichern. Kunststoffe stehen dabei, im Guten wie im Schlechten, in Beziehung mit jedem Aspekt der menschlichen Aktivität sowie jedes Organismus auf der Erde. Eine einfache populäre wenngleich etwas naive Antwort ist, die bestehende sogenannte lineare Wirtschaft in eine zirkuläre umzuwandeln. Dies deutet auf Business as usual hin, wobei die Industrie nur ihre Chemikalien oder Materialien zurückgewinnt und einfach erneuerbare Energien anstelle von fossilen Brennstoffquellen zum Betrieb verwendet. All dies muss ohne die Emission von Treibhausgasen (CO2 und Äquivalente), ohne Verlust von Materialien oder Chemikalien und ohne weitere Schäden an der Biosphäre geschehen. Die Realität ist jedoch weitaus komplexer. Die Biosphäre, in der sich die Menschheit bewegt, ist ein System von Verbindungen und Schleifen, das sich kontinuierlich entwickelt und verändert und sich an veränderte Klima- und Umweltbedingungen anpasst. Es ist ein mehrdimensionales Netz von interagierenden Teilen und Prozessen, in dem die Wirtschaft nur eines von vielen Subsystemen ist. Solche komplexen Systeme zu verstehen ist der erste Schritt hin zur Entwicklung smarter Massnahmen, die nicht nur der Kunststoffindustrie, sondern der Menschheit ein langfristiges Überleben ermöglichen, und er kann nur mit Hilfe der Digitalisierung gelingen. Die durch die Digitalisierung ermöglichte Modellierung und Vorhersage von Wetter und Klima hat sich von den Modellentwicklungen von Edward Lorenz in den frühen 1960er Jahren – dem sogenannten Schmetterlingsmodell – zu sehr genauen Vorhersagen und Simulationen von Zukunftsszenarien des Einflusses von Treibhausgasemissionen auf die durchschnittliche globale Erwärmung der Biosphäre entwickelt. Das Wetter ist ein komplexes System, das mit einem Satz gekoppelter (verknüpfter) mathematischer Gleichungen beschreibbar und mit ausgeklügelten, intelligenten Algorithmen lösbar ist, um vorherzusagen, was passieren wird. Das Verständnis der beteiligten Variablen und der definierten Rahmenbedingungen kann zu einer Analyse der Konsequenzen und Risiken führen, die die optimalen Lösungen vorschlagen, um wie im Fall der Reduzierung der GHG-(Treibhausgas)Emissionen das Notwendige zu tun. Die Konsequenz (Rückkopplungsschleife) jeder ausgewählten Aktion oder Aktionen kann gleichermassen bewertet werden.

In ähnlicher Weise kann und muss die Digitalisierung dazu beitragen, Lösungen zu entwickeln, um Kunststoffe zu den nachhaltigen Materialien der Zukunft zu machen. Die Bemühungen haben jedoch gerade erst begonnen und werden – zumindest teilweise – auf der Ebene der materialwissenschaftlichen Entwicklung im EU-Horizon-2020-Projekt MarketPlace veranschaulicht.

MarketPlace

Die Entwicklung von Kunststoffen als Materialien zur Herstellung funktionaler Produkte, die nachhaltig und klimaneutral in Bezug auf ihre chemischen Einsatzstoffe, Synthese, Verarbeitung, Nutzung und Nachnutzung sind, ist eine komplexe Systemherausforderung. Sehr vereinfacht ausgedrückt, sind bei erster Betrachtung die wissenschaftlichen und technologischen Herausforderungen multiskalig von kleinen bis grossen Längenskalen und von kurzen bis langen Zeitskalen. Die relevante Wissenschaft auf jeder Längen-/Zeitskala wird mathematisch definiert, in spezifische Algorithmen geformt und typischerweise als separate Programme aufgesetzt, um spezielle Herausforderungen anzugehen. Um den gesamten Lebenszyklus des späteren Produkteinsatzes und nach seiner Verwendung zu adressieren, müssen alle diese Programme von der atomistischen oder molekularen (Diskreten) Skala mit der makroskopischen Materialskala (Kontinuum) verbunden werden. In einem zweiten Fall sind Mehrzieloptimierungsalgorithmen erforderlich, um alternative Lösungen zu erforschen. Darüber hinaus müssen Programme integriert werden, die den ökologischen Fussabdruck und die sozioökonomischen Aspekte des gesamten Lebenszyklus des Produktes bewerten. Die gesamten Modellierungs- und Simulationsaktivitäten, die zugehörigen Werkzeuge und Datenbanken, das Expertennetzwerk, die Betriebs- und Sicherheitsverfahren, die Rechenanlagen und vieles mehr werden in einer zentralen und offenen Anlaufstelle – der sogenanten MarketPlace-Plattform – zusammengeführt (Bild 1). Neue Programme und Informationen können von allen hinzugefügt, aktualisiert oder gelöscht werden, entweder kostenlos oder mit kommerzieller Bezahlschranke. Das Projekt MarketPlace wird durch das EU Horizon2020 Programm gefördert und orientiert sich an den Empfehlungen des European Materials Modelling Council (EMMC). Es trägt zu den Digitalisierungsbemühungen der EU bei, wobei der Schwerpunkt auf der Bereitstellung eines virtuellen Marktes liegt, um einzukaufen, zu erleben und gemeinsam an komplexen Materialherausforderungen in all ihren Aspekten, einschliesslich der Nachhaltigkeit, zu arbeiten.

Beispiel

PICC ist im Rahmen von HES-SO – HEIA-FR Partner im Projekt MarketPlace. Die Hauptaufgabe von PICC ist die Validierung der Funktionsfähigkeit der MarketPlace-Plattform bei der Bewältigung einer bestimmten Materialherausforderung. Als Beispiel wird die Herausforderung des keramischen Spritzgiessens von Zahnimplantaten untersucht. Wie in Bild 2 gezeigt, stellt die Modellierung der Herstellung eines Keramikteils aus einem hochgefüllten Kunststoff mehrere Herausforderungen auf unterschiedlichen Längen- und Zeitskalen dar. Die Herstellung der Verbindung zeichnet sich durch die Wechselwirkungsphysik und -chemie von Polymer und anorganischem Füllstoff sowie den Einfluss von Partikelform und -grösse aus. Das Spritzgiessen erfordert ein Verständnis der Strömung und Partikelverteilung auf Kontinuumsebene, um ein „grünes“ Teil zu formen. In einem nächsten Schritt wird das Polymer pyrolytisch entfernt, um den „braunen“ Teil zu bilden, der schliesslich gesintert wird, um das endgültige Bauteil zu liefern, das sehr spezifische Leistungskriterien erfüllen muss. Für jeden dieser Schritte ist eine sehr ausgefeilte Modellierung erforderlich, um Physik und Chemie zu erfassen, um die Formintegrität und die mechanische Leistungsfähigkeit des finalen Bauteils vorherzusagen.

Bild 3: Simulationen der Injektion einer hochgefüllten Polymermischung an drei verschiedenen Stellen einer Zahnimplantat-Form. Die drei Fälle zeigen die Injektionspunkte (oben), die Schweisslinienbildung (Mitte) und den Restverzug und die Schrumpfung für jeden Fall (unten).

Zunächst muss der gesamte Prozess in einen Modellierungsdaten-Workflow (MODA) umgewandelt werden, der die erforderlichen Daten, die erforderlichen Softwaremodule und die physischen Grössen definiert, die nötig sind, um schliesslich Ausgaben zu erhalten, die die Leistungsaufwertung des Endprodukts ermöglichen. Bis zu diesem Zeitpunkt im Modellierungsprozess wurden keine Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigt, obwohl im Rahmen der MarketPlace-Plattform mehrere Werkzeuge zur Verfügung gestellt werden können, um die ökologischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen des Zielprodukts zu untersuchen.

Das MODA definiert, welche Schritte mit den auf der MarketPlace-Plattform verfügbaren Tools zu unternehmen sind. Beispielsweise kann, die Vermischung des Polymergranulats und des anorganischen Pulvers simuliert werden, um eine homogene Verbindung zu erhalten, die in einen „grünen“ Teil gegossen werden kann.

Wie in Bild 3 gezeigt, kann der Spritzgiessprozess dann für verschiedene Injektionspunkte simuliert werden, um die am besten geeignete Teileproduktion zu bewerten, die letztlich ein Keramikteil liefert, das alle Leistungsanforderungen erfüllt.

Weitere Modellierungen des Debonding- und Sinterprozesses können dann unter Verwendung der verfügbaren Programme auf der MarketPlace-Plattform durchgeführt werden. Fachkundige Hilfe findet der Nutzer im Bedarfsfall innerhalb von MarketPlace. Dies kann z.B. in Form des Aufbaus des Modellierungsaufwands oder der Durchführung der Modellierung mit eventueller Schulung des einzelnen Modellierers erfolgen.

Perspektiven

Die MarketPlace-Plattform ist nur der Anfang einer wissenschafts- und technologiegetriebenen digitalen Plattform zur Weiterentwicklung von Materiallösungen für die Industrie, einschliesslich der Kunststoffindustrie. Bis heute ist die Realisierung der vollumfänglichen Funktionstüchtigkeit des MarketPlace, wie man es sich anhand von „Ready Player One“ vorstellen kann, jedoch noch in weiter Ferne. Aber die MarketPlace-Plattform als Avatar zu betreten und mit anderen Avataren zu interagieren, um gemeinsam nachhaltige Kunststoffmaterialien und -produkte in der virtuellen Welt der Polymere, Extruder, des Produktdesigns, der Verwendungen und Nachnutzungen zu bauen und zu verbessern und dabei gleichzeitig die Leistungseigenschaften und Nachhaltigkeit vollständig zu bewerten, ist kein Ding der Unmöglichkeit mehr, sondern liegt bereits in greifbarer Zukunft.

Dank

Das MarketPlace-Projekt wird durch die H2020-NMBP-25-2017-Ausschreibung mit der Nummer der Finanzhilfevereinbarungfinanziell unterstützt: 760173. Die Grafiken wurden freundlicherweise von den Projektpartnern und insbesondere Nikolaos Lempesis und Vlasios Mitsoulas zur Verfügung gestellt.

Referenzen

Ready Player One

https://en.wikipedia.org/wiki/Ready_Player_One

E.O. Wilson, Halbe Erde, W.W.Norton & Company, New York (NY), 2016

E. Lorenz und der Schmetterlingseffekt:

https://www.aps.org/publications/apsnews/200301/history.cfm

Marktplatz:

https://www.the-marketplace-project.eu/

Kontakt

PICC Plastics Innovation Competence Center
CH-1700 Fribourg
rudolf.koopmans@hefr.ch
www.innosquare.com

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