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Das Recycling-Rätsel

Das Recycling von Kunststoffen ist eine sehr komplexe Herausforderung, die sich nicht nur auf ein geeignetes Sammelsystem und eine Energierückgewinnung (in Form von Verbrennung) oder eine stoffliche Wiederaufbereitung beschränkt.
Als „circularity gap“ wird die Differenz zwischen der produzierten und genutzten Menge an Erzeugnissen und wie viel davon schliesslich wiedergewonnen wird, bezeichnet. (Bilder: PICC)

Das Recycling von Kunststoffen ist eine sehr komplexe Herausforderung, die sich nicht nur auf ein geeignetes Sammelsystem und eine Energierückgewinnung (in Form von Verbrennung) oder eine stoffliche Wiederaufbereitung beschränkt.

Autor: Rudy Koopmans, Leiter des PICC, HEIA-FR, Fribourg/Freiburg

Ein Video (1) von Swissinfo.ch aus 2019 mit dem Namen „Warum ist es so schwer, Kunststoffe zu recyceln?“ schlussfolgert: „Wir haben das Jahr 2019, trotzdem scheint das Abfallmanagement für Kunststoffe in der Schweiz nach wie vor ein Rätsel zu sein.“ Nun sind wir am Ende des Jahres 2022, und das Rätsel bleibt nicht nur für die Schweiz weiterhin ungelöst, sondern auch für den Rest der Welt. Nichtsdestotrotz können echte Rätsel gelöst werden, indem man die Regeln des Rätsels versteht und es auf seine einzelnen Elemente herunterbricht.

Eine Regel des Rätsels um das Recyceln von Kunststoffen ist der sozioökonomische Treiber: Wer profitiert davon, wie viel kostet Recycling und wer bezahlt? Eine andere Regel ist die Energie-Stoff-Bilanz, d.h. wie viele und welche Energieträger werden benötigt, um Kunststoffe herzustellen, die zum gewünschten Funktionieren der Gesellschaft beitragen und recycelt werden können? Eine dritte Regel wird oft als „Die Tragik der Allmende“ (2) bezeichnet: Können Einzelpersonen, die in ihrem eigenen Interesse handeln, gemeinsame Ressourcen erschöpfen? Die anspruchsvollste Regel ist jedoch, dass die Naturgesetze das ungezügelte Wachstum einschränken oder einfach umschrieben: Es gibt nichts umsonst! Es sind Anstrengungen erforderlich, um Gesellschaften, Organisationen und Ökosysteme zu erhalten.

Standardisierte Sammelverfahren oder Sortierprozesse fehlen

Die Bestandteile des Rätsels um das Recycling von Kunststoffen beginnen mit der Auswahl des Ausgangsmaterials für die Kunststoffsynthese. Fossile oder nicht fossile Rohstoffe bestimmen, welche Art und wie Kunststoffe hergestellt werden. Die Wahl bestimmt, wie einfach oder schwierig es ist, die Kunststoffe als Material oder in Form der Ausgangschemikalien wiederzugewinnen. Zunächst werden die hergestellten Kunststoffe in eine Vielzahl von Erzeugnissen umgewandelt, die jeweils durch eine Marktnachfrage motiviert sind. Tatsächlich erfüllen die zahlreichen Erzeugnisse zunehmend sehr spezifische funktionale Bedürfnisse oder Wünsche, die viele echte oder vermeintliche Vorteile wie Lebensmittelsicherheit, Komfort, Individualisierung, geringes Gewicht, niedrige Kosten, Langlebigkeit und vieles mehr bringen. Leider wird bei der Konzeption wenig oder gar nicht darüber nachgedacht, was nach dem tatsächlichen oder scheinbaren Ende der Nutzung passiert. Der entscheidendste Teil des Recycling-Rätsels ist jedoch die Frage, was mit den nicht mehr genutzten Kunststoffobjekten geschehen soll. Dies wird auch als „circularity gap“ (3) bezeichnet und bezieht sich auf die Differenz zwischen der produzierten und genutzten Menge an Erzeugnissen und wie viel davon schliesslich wiedergewonnen (4) wird für die eventuelle Umwandlung in Werkstoffe oder chemisches Ausgangsmaterial. Dies ist der Teil des Sammelns und Sortierens, der die individuelle Bereitschaft erfordert, eine akzeptable, effektive Sammelinfrastruktur und ein effizientes Sortier- und Logistiksystem zu nutzen, das dem Kunststoffaufbereitungsprozess zugeführt wird. Bis heute gibt es in ganz Europa und seinen Regionen keine standardisierten Sammelverfahren oder Sortierprozesse. Die einzigen Gemeinsamkeiten bestehen in der unterschiedlichen indirekten oder direkten Besteuerung von Einzelpersonen oder Haushalten. Der letzte Teil des Rätsels betrifft die Aufbereitung der gesammelten und sortierten Kunststoffe.

Es sollte sofort klar sein, dass diese wenigen, aber wesentlichen Teile des Rätsels den Lebensunterhalt vieler Menschen, wie Interessenvertreter mit ihren jeweiligen besonderen Eigeninteressen, berührt. Eine gemeinsame Grundlage zu finden, um eine „circularity gap“ zu vermeiden und einen geschlossenen Kreislauf von Rohstoff zu Rohstoff mit Schwerpunkt auf einem kohlenstoffneutralen Betrieb zu schaffen, erfordert die Zusammenarbeit und die Bereitschaft aller Beteiligten, Verhaltensweisen anzupassen und die derzeitige Vorgehensweise zu ändern. Eine extrem anspruchsvolle Aufgabe. Typischerweise sind Gesetzgebung und Besteuerung die Mittel der Wahl, um Veränderungen durchzusetzen. Ein möglicher anderer Ansatz ist jedoch, jeden Einzelnen darauf zu trainieren, durch sein direktes persönliches Engagement im Recyclingprozess und ohne Besteuerung das Richtige zu tun.

Engagement

In vielen Gesellschaften nahm man bezüglich der menschlichen Motivation an und tut dies auch noch immer, dass Individuen grundsätzlich egoistische Lebewesen sind, die durch ihre eigenen Interessen geleitet werden. Diese Annahme hat dazu geführt, dass Ökonomen, Politiker, Gesetzgeber, Geschäftsführer, Ingenieure und viele andere ein System rund um Anreize, Belohnungen und Strafen geschaffen haben, um ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen. (5)

Das RCOIN-Konzept besteht darin, Kunststoffprodukten nach Gebrauch einen Krypto-Guthabenwert zuzuweisen.

Gesetzgebung zur Netto-Null-Emission, Kunststoffsteuer, Emissionshandelssteuer, Mehrwertsteuer, Steuerermässigung auf ausgewählte Einkäufe, Rabatte, leistungsbezogene Bezahlung und vieles mehr zielen darauf ab, individuelle Beiträge zu erzwingen, wohingegen Engagement in einer kollektiven Aktion, d. h. Zusammenarbeit, erforderlich ist. Die Zusammenarbeit für einen gemeinsamen Zweck verlangt Verbundenheit, ein gemeinsames Ziel, die Mittel und die Fähigkeit zur Ausführung sowie das individuelle Engagement. Um dies zu ermöglichen, hat PICC RCOIN geschaffen. RCOIN ist ein gemeinsames Projekt der Ingenieur- und Architekturhochschulen (HEIA-FR), der Business School (HEG) und der Hochschule für Sozialwissenschaften (HETS) in Fribourg (FR). Es wird von HES-SO und Beiträgen der 3 Schulen finanziert. Das Konzept basiert ursprünglich auf einer Idee von Dr. Michael Peshkam und Dr. David Dubois, beide an der Business School INSEAD, Frankreich (6) tätig. Das Konzept besteht darin, Kunststoffprodukten nach Gebrauch einen Krypto-Guthabenwert zuzuweisen. Dieser Wert wird dem Käufer des Kunststoffprodukts in dem Moment gutgeschrieben, in dem es ordnungsgemäss zum Recycling entsorgt wird. Krypto-Credits können auf einem persönlichen Konto angesammelt werden, da jede „Rückgabe“-Transaktion durch die Blockchain-Technologie geschützt ist. Der Ansatz unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht deutlich von einem klassischen Deposit Return Scheme (DRS). Es ist bewiesen, dass ein Mehrpreis beim Kauf von kunststoffverpackter Ware die Rücklaufquote der Kunststoffverpackung deutlich erhöht. Mehrere Länder erreichen für Einweg-Kunststoffverpackungen wie PET-Getränke- oder PE-Milchflaschen (7) bereits jetzt eine von der EU für 2029 gesetzte Rücknahmequote bei der getrennten Sammlung von über 90 %. Freiwillige Systeme sind tendenziell weniger effektiv (8).

Krypto-Credits

Was auch immer der positive Beitrag der Rücknahmesysteme sein mag, es zeigt sich immer noch, dass im Laufe der Jahre weltweit 100.000 Tonnen Plastikflaschen verbrannt, deponiert oder weggeworfen wurden. Ungeachtet des bescheidenen Erfolgs dieser Systeme sind sie ein notdürftiger Ansatz mit begrenzter Wirkung auf ein selbst geschaffenes Problem. Darüber hinaus legen die Systeme die Kosten und Handhabung in die Hände der Öffentlichkeit, d. h. derjenigen, die beispielsweise eine Ware gekauft haben, deren Kunststoffverpackung nach Gebrauch der Ware nicht mehr benötigt wird. All die anderen Interessengruppen der Wertschöpfungskette – Kunststoffproduzenten, -verarbeiter, Einzelhändler, Markeninhaber, usw. – sind nicht beteiligt. Sie haben es zu einem Problem für die anderen gemacht. Im Gegensatz dazu ist das RCOIN-System ein lebenszyklischer Denkansatz, der alle Interessengruppen in der Wertschöpfungskette und nicht nur die Öffentlichkeit in den Vorgang, Kunststoffe so lange wie möglich in Verwendung zu halten, einbezieht. Dazu wird eine digitale Cloud-Infrastruktur aufgebaut, die die Konzepte Material-Massenbilanz (9), Materialpass (10), Krypto-Credits und „grüne“ Anlageportfolios vereint. Es nutzt bestehende Strukturen, definiert Verbesserungen und identifiziert Investitionsbedarf, um den Kreislauf zu schliessen. Dementsprechend wird jede Wertschöpfungskette für alle vollständig transparent. Die Massenbilanz definiert, welches Material wem gehört und wohin es geht und wie es wieder zurückkommt, und der Materialpass definiert die vollständige Zusammensetzung eines Produkts, um die Sortierung und Aufbereitung zu erleichtern. Der gesamte Prozess kann von allen Beteiligten gemäss ihrem Anteil am Material- oder Energieeinsatz für die Herstellung, Umwandlung, Verteilung, Verwendung und Wiederverwendung des Kunststoffprodukts, des Kunststoffmaterials oder der daraus gewonnenen Chemikalien finanziert werden. Aber noch wichtiger ist, dass der „Verbraucher“ zum Akteur in dieser Wertschöpfungskette wird, d.h. jeder Bürger kann zum Unternehmer werden. Dies bedeutet, dass alle ein Produkt für den Gebrauch kaufen und den nicht verwendeten Teil, z. B. die Kunststoffverpackung, an Sammler „verkaufen“, wobei sie bei Abschluss der Transaktion einen „Gewinn“ in Form von Krypto-Credits erhalten. Dieser Krypto-Credit heisst RCOIN und ermöglicht es Einzelpersonen, beispielsweise in Recyclingunternehmen zu investieren, an Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden, lokale grüne Initiativen zu finanzieren, Forschung zu unterstützen und vieles mehr, um eine Kreislaufwirtschaft voranzutreiben.

RCOIN-Projekt

Alle Transaktionen werden mithilfe der Blockchain-Technologie gesichert. Das Fribourg RCOIN-Projekt ist ein erster Nachweis der Machbarkeit mit Fokus auf PET-Flaschen. Es testet den Prozess der Rückgabe leerer Flaschen und deren digitale Nachverfolgung, d. h. das Angehen der „circularity gap“. Der Prozess erfordert, dass die Teilnehmer eine RCOIN-App auf ihr Mobiltelefon herunterladen und sich registrieren, um ein persönliches Krypto-Guthabenkonto zu eröffnen. Die (leere) PET-Flasche des gekauften Getränks wird mit 1 RCOIN bewertet, die nach dem Scannen eines QR-Codes und dem Einwerfen in einen intelligenten PET-Behälter dem registrierten Konto der Person gutgeschrieben wird. Am aktuellen Projekt nahmen mehrere lokale Geschäfte und Wohltätigkeitsorganisationen teil, um RCOIN als Zahlung für verschiedene Dienstleistungen oder Waren zu akzeptieren. Alle Teilnehmer werden somit belohnt (erzielen einen Gewinn), um zu einer ordnungsgemässen und selektiven Sammlung beizutragen. Dieselben Prinzipien können auf jede Transaktion in der Wertschöpfungskette angewendet werden. Weitere Arbeiten sind erforderlich, um das Pilotprojekt zu einem grösseren, kommerziell tragfähigen Projekt auszubauen, für das Partner gesucht werden.

Das Rätsel ist gelöst.

Literatur

(1) https://www.swissinfo.ch/eng/nouvo_why-is-plastic-so-hard-to-recycle-/45348284?utm_campaign=teaser-in-article&utm_source=swissinfoch&utm_medium=display&utm_content=o
(2) Hardin, Garrett. “The Tragedy of the Commons.” Science 162 (1968): 1243–1248.
(3) https://www.circularity-gap.world/about
(4) Plastics Europe 2018, The Facts
(5) Yochai Benkler, The penguin, and the leviathan. The triumph of cooperation over self-interest., Crown Business, New York (NY) USA, 2011.
(6) http://knowledge.insead.edu – – M. Peshkam, D. Dubois, How blockchain can win the war against plastic waste., INSEAD, 2019.
(7) https://en.wikipedia.org/wiki/Container-deposit_legislation
(8) https://www.bafu.admin.ch/bafu/en/home/topics/waste/guide-to-waste-a-z/pet-beverage-containers.html
(9) https://www.basf.com/global/en/who-we-are/sustainability/whats-new/sustainability-news/2019/EllenMacArthurfoundation-White-Paper-Mass-balance.html
(10) Thomas Rau http://turntoo.com/en/material-passport/

Kontakt

PICC Plastics Innovation Competence Center
CH-1700 Fribourg/Freiburg
rudolf.koopmans@hefr.ch
picc.center/en/

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