„Die Klebtechnik besitzt technologisch, ökologisch und ökonomisch gesehen grosses Potenzial als führende Verbindungstechnik des 21. Jahrhunderts und ist so die Basis für dringend benötigte Innovationen quer durch alle Branchen“, sagt Professor Dr. Andreas Gross, Abteilungsleiter „Weiterbildung und Technologietransfer“ am Fraunhofer IFAM (Bremen). Nur müsse diese Erkenntnis auf den politischen Entscheiderebenen endlich ankommen, denn Bürokratismus und Regulierungsdirigismus würden sich zum unnötigen Spannungsfeld entwickeln.
Was braucht die Klebtechnik im 21. Jahrhundert, um ihr Potenzial nutzen zu können?
Andreas Gross: Gute Frage! Trotzdem würde ich die Frage zunächst gerne umdrehen, denn viel interessanter ist: Braucht das 21. Jahrhundert die Klebtechnik?
Und – braucht das 21. Jahrhundert diese Verbindungstechnik?
Ja – denn der Schlüssel zu Innovationen liegt heute und zukünftig in der problemlosen Verbindung der verschiedensten Materialien. Wir verwenden heute quer durch alle Branchen viele Werkstoffe, die wir mit klassischen Technologien wie Schweissen, Schrauben oder Nieten nicht mehr sinnvoll verbinden können. Der fortwährende, immer schnellere Wandlungsprozess aller entscheidenden Gestaltungsräume der Gegenwart und Zukunft führt bei Produktentwicklungen zu stetig anspruchsvolleren Kundenerwartungen in Form besserer Produktqualität, höherer Funktionalität, geringerem Gewicht, zeitgemässem Design usw. Das führt mit rasanter Geschwindigkeit zwangsläufig zu Neu- und Weiterentwicklungen anforderungsspezifisch entwickelter und ausgewählter Werkstoffe. Folglich sind Werkstoffe unter technologischen, ökologischen und ökonomischen Aspekten im 21. Jahrhundert der entscheidende Faktor für die grossen Zukunftsfelder Energie, Klima- und Umweltschutz, Ressourcenschonung, Mobilität, Gesundheit, Sicherheit oder Kommunikation. Werkstoffe und ihre Eigenschaften ermöglichen die kontinuierlichen Fortschritte, ohne die, z.B. in den Bereichen Maschinenbau, Verkehrsmittelbau, Luftfahrtindustrie, Chemische Industrie, Medizintechnik, Energietechnik oder Umweltschutz, diese nicht denkbar wären.
Die Werkstofftechnik ist also neben der Klebtechnik eine der Schlüsseltechnologien im 21. Jahrhundert – was folgt daraus?
Die beiden Technologien entfalten ihr Potenzial in vielen Anwendungsbereichen zusammen. Die Werkstoffvielfalt nimmt zur Erfüllung der immer komplexeren Anforderungen im Verbund gleicher und unterschiedlicher Werkstoffe zu. Viele Produkte, Bauteile oder Komponenten sind heute und morgen Verbundsysteme oder werden es. Die daraus resultierende Werkstoffentwicklung und die Entwicklung der Verbindungstechnik müssen als gleichberechtigt und im Zusammenhang betrachtet werden. Beides muss zusammenpassen – und zwar unter Erhalt der Werkstoffeigenschaften.
Nun ist die Klebtechnik nur eine Verbindungstechnik – neben Nieten, Schweissen, Schrauben usw. Was macht sie besonders?
Kleben ist weit mehr als „nur eine Verbindungstechnik neben Nieten, Schweissen, Schrauben usw.“. Wie bereits gesagt, muss eine Verbindungstechnik zur Erfüllung der steigenden Produktanforderungen die Eigenschaften der jeweiligen Werkstoffe erhalten – d.h. Werkstoffverletzungen durch Lochbohrungen wie beim Schrauben, Nieten, Nageln & Co. oder die durch Wärmebelastung hervorgerufenen Eigenschaftsänderungen wie beim Schweissen oder Hartlöten sind bei vielen heutigen Werkstoffen limitierende Faktoren. Der Erhalt der Werkstoffeigenschaften – das ist das essenzielle Alleinstellungsmerkmal der Klebtechnik: Kleben ist die einzige Verbindungstechnik, mit der es möglich ist, jeden Werkstoff mit sich selbst oder mit anderen Werkstoffen langzeitbeständig und sicher zu verbinden und – ganz entscheidend – dieses ohne Werkstoffveränderungen, d.h. unter Erhalt der Werkstoffeigenschaften, zu erreichen und dadurch zu den gewünschten Produkteigenschaften zu gelangen.
Können Sie dieses Alleinstellungsmerkmal an einem Beispiel verdeutlichen?
An zahllosen Beispielen! Ich nehme hier stellvertretend die Entwicklung alternativer Energiequellen, denn Kleben ist „Enabler“ für die angestrebte Energiewende. Diese ist ohne Klebtechnik nach heutigem Stand der Technik undenkbar. So sind z.B. die Rotorblätter der Windenergieanlagen rein geklebte Konstruktionen aus glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK), einem klassischen Leichtbauwerkstoff. Punktuelle Verbindungen der GFK-Rotorblatthalbschalen, wie Verschraubungen, Nieten oder Nageln, scheiden aus. Diese würden an den Verbindungspunkten den GFK-Leichtbauwerkstoff durch „Löcher“ zerstören und unter Last an den Verbindungsstellen derartig hohe Spannungen erzeugen, dass die GFK-Rotorblattwände stark verdickt werden müssten. Die eigentlichen Leichtbau-Rotorblätter würden damit viel zu schwer, sodass Windenergie als Form alternativer Energieerzeugung kein Thema mehr wäre. Schweissen scheidet aus, weil der GFK-Werkstoff nicht schweissfähig ist. Klebtechnisch wird zudem zusätzlich eine Schutzfolienschicht auf die besonders beanspruchten Rotorblatt-Vorderkanten geklebt. Sie schafft – auch unter extremen Offshore-Bedingungen mit Rotationsgeschwindigkeiten von bis zu 390 km/h – eine dauerhaft glatte und aerodynamisch günstige Oberfläche zur optimierten Energieausbeute.
Wird der Stellenwert der Klebtechnik in Deutschland heute schon richtig eingeschätzt?
Das liegt im Auge des Betrachters, und der ist leider höchst unterschiedlich. Aber erst sollte man den Begriff „Stellenwert“ präzisieren: Deutschland ist weltweit führend in der Klebtechnik, sowohl hinsichtlich der Tonnage als auch des Umsatzes. Wir sind weltweit führend in der klebtechnischen Forschung und Entwicklung, sowohl im industriellen als auch im institutionellen Bereich. Wir sind weltweit führend in der klebtechnischen Qualitätssicherung und Begründer und Weltmarktführer in der berufsbegleitenden, personalzertifizierenden Weiterbildung zu klebtechnischen Experten. Diese Personalqualifizierung – ein essenzieller Qualitätssicherungsbeitrag – hat sich zu einem internationalen Industriestandard entwickelt. Heute ist er europaweit harmonisiert und wird weltweit umgesetzt. Deutschland hat nicht eine, Deutschland hat die Führungsrolle in der Klebtechnik. Das ist der Stellenwert, dessen Potenzial bei der anwendenden Industrie zunehmend erkannt und genutzt wird. Alle Beteiligten – die Klebstoffbranche, die Prozesstechnikentwicklung und -herstellung, der F&E-Bereich usw. – haben diesen Stellenwert miterarbeitet. Auf den politischen Entscheiderebenen und damit im regulatorischen Umfeld hat die Klebtechnik – diplomatisch und politisch korrekt formuliert – leider ein ziemlich ausbaufähiges Image.
Warum ist das so?
Kleben ist komplex, was eine ganzheitliche Bewertung unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren nicht ganz einfach macht. Im politischen und regulatorischen Umfeld erleben wir häufig, dass man den einfacheren Weg vorzieht. Dabei fokussiert man sich auf scheinbar überschaubarere Einzelaspekte und macht diese ohne Folgenabschätzung in einem „Big Picture“ zur Entscheidungs- und Bewertungsgrundlage. Diese Vorgehensweise wird durch eine inzwischen fehlgeleitete Bürokratie verstärkt. Das Ergebnis ist ein längst unüberschaubarer, völlig kontraproduktiver Bürokratismus, der mit seiner Hyperkomplexität im Kleinen den wichtigen Überblick als Basis für sinnvolle Weichenstellungen unmöglich macht.
Eine Folge ist, dass viele Betriebe die heutigen Pflichten und Verbote als grösstes Investitionshindernis betrachten. Das nächste Bürokratismus- und Regulierungsdirigismus-Level wird dann von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden. Ein Beispiel, das auch die Klebtechnik tangiert, ist die „Chemikalienstrategie“ der EU. Trotz der heute schon international höchsten und weltweit beispielgebenden Sicherheitsstandards will man diese Standards auf politischer Ebene noch weiter verschärfen. Was das, zusammengefasst betrachtet, für die Klebtechnik bedeutet, versuche ich ansatzweise mal so zu verdeutlichen: Hätte man mit dem heutigen Bürokratismus und dem heutigen Regulierungsdirigismus bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gearbeitet, hätte es die grossartige Erfolgsstory der Schweisstechnik im 20. Jahrhundert nicht gegeben!
Die Klebtechnik hat ihre Erfolgsstory im 21. Jahrhundert also noch vor sich …
Theoretisch ja, denn im Gegensatz zu den angeführten konventionellen Verbindungstechniken ist bei der Klebtechnik das Ende der Entwicklungsphase längst noch nicht in Sicht – weder im Forschungs- und Entwicklungsbereich noch in der Anwendung. Auch ihr Marktpotenzial als „technologischer Möglichmacher“ ist für viele Entwicklungen in diesem Jahrhundert sehr gross.
Und praktisch?
Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten und den politischen Entscheiderebenen vier Dinge klarmachen:
Erstens: Die Erfolgsstory der Verbindungstechnik „Kleben“ hält niemand auf, weder in Brüssel noch in Berlin. Die Klebtechnik und ihre Anwendungen werden sich in jedem Fall weiterentwickeln.
Zweitens: Der Beibehalt des derzeitigen europäischen und nationalen Bürokratismus und Regulierungsdirigismus wird die Entwicklung und Erfolgsstory der Klebtechnik mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Deutschland und Europa verhindern – aber niemals im globalen Kontext.
Drittens: Einer Technologie ist es völlig egal, wer sie vorantreibt und wo, also auf welchem Kontinent, sie vorangetrieben wird. Deshalb ist in Brüssel und Berlin zu klären, was eine nationale bzw. europäische Führungsrolle überhaupt noch wert ist.
Viertens: Themen, die komplex und ganzheitlich zu betrachten sind, können nicht so einfach behandelt werden. Das gebietet schon der gesunde Menschenverstand. Wer hier nicht die nötige Ernsthaftigkeit aufbringt, sollte Sachen regulieren, die sich einfach regulieren lassen.
Welche Forderungen resultieren daraus?
Ich wünsche mir, dass wir uns schnell aus der heutigen Sackgasse herausbewegen und die politischen Entscheiderebenen und Regulierungsadministrationen dabei mindestens die gleiche Kreativität bei der innovationserforderlichen Exnovation, d.h. dem Abschaffen und Zurücknehmen des Bürokratismus und Regulierungsdirigismus, an den Tag legen, die sie für deren innovationsverhindernden Aufbau aufgewendet haben. Passiert das nicht, werden Deutschland und Europa auch in der Klebtechnik ihre weltweite gestalterische Führungsrolle verlieren und auch in diesem Bereich der Entwicklung hinterherhinken. Das können wir nicht wirklich wollen. Die politischen Entscheiderebenen müssen den Fokus umgehend wieder auf die Nutzung des international technisch Möglichen und Erforderlichen legen. Und beim „Erforderlichen“ meine ich auch den verantwortungsbewussten Umgang mit Chemikalien. Die Klebtechnik muss auf nationalen und europäischen politischen Entscheiderebenen den technologischen Stellenwert als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts erhalten, und damit die Wertschätzung erfahren, die sie verdient.
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