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Die Schweiz als Drittstaat

Die Schweizer Medizintechnikindustrie verlor mit dem Geltungsbeginn der neuen EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) ihren bisher barrierefreien Zugang zum EU-Binnenmarkt. Schweizer Unternehmen müssen nun erhöhte Anforderungen für den Export ihrer Medizinprodukte in die EU erfüllen. Die Schweizer Medtech-Branche hat sich mit grossem Einsatz so gut wie möglich auf diesen Tag vorbereitet.
Der Administrationsaufwand zur Erfüllung der Drittstaat-Anforderungen kostet die Schweizer Medizintechnikindustrie schätzungsweise CHF 75 Mio. jährlich. (Pixabay)

Die Schweizer Medizintechnikindustrie verlor mit dem Geltungsbeginn der neuen EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) ihren bisher barrierefreien Zugang zum EU-Binnenmarkt. Schweizer Unternehmen müssen nun erhöhte Anforderungen für den Export ihrer Medizinprodukte in die EU erfüllen. Die Schweizer Medtech-Branche hat sich mit grossem Einsatz so gut wie möglich auf diesen Tag vorbereitet.

Wegen des fehlenden Institutionellen Abkommens (InstA) hat die Europäische Union (EU) das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agreement, MRA) nicht aktualisiert. Mit dem Geltungsbeginn der neuen EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) verliert die Schweizer Medizintechnikindustrie deshalb ihren bisher barrierefreien Zugang zum EU-Binnenmarkt.
Die EU machte bereits Ende 2018 klar, dass sie ohne Paraphierung des InstA weder neue bilaterale Verträge mit der Schweiz abschliessen noch bestehende aktualisieren wird. Damit wurde die Medtech-Branche zum polittaktischen Spielball EU-Schweiz.

Die Branche ist vorbereitet

«Es war früh klar, dass die Aktualisierung des MRA eine reine Frage des politischen Willens beider Verhandlungspartner ist. Unsere Empfehlung an die Schweizer Medtech-Branche lautete deshalb schon vor zwei Jahren: Wer den Warenexport in die EU lückenlos und unabhängig von der politischen Situation EU-Schweiz sicherstellen will, muss sich auf die Eventualität «Drittstaat» vorbereiten», sagt Peter Biedermann, Geschäftsleiter von Swiss Medtech. Diese Nachricht traf die Medtech-Branche zu einem Zeitpunkt grösster Herausforderungen. Allein die Implementierung der MDR ist und bleibt ein grosser Kraftakt. Hinzu kommt die Corona-Pandemie, bei deren Bewältigung die Medizintechnik eine zentrale Rolle im Gesundheitssystem spielt.

Peter Biedermann Geschäftsleiter Swiss Medtech (Swiss Medtech)

Ernsthafte Konsequenzen

Ohne die Nachführung des MRA drohen schwerwiegende Konsequenzen: Schweizer Medizinprodukte könnten nicht mehr hindernisfrei in den EU-Raum exportiert werden. Das Ergreifen entsprechender Gegenmassnahmen könnte laut Schätzungen die Industrie in den nächsten Jahren mehrere Hundert Millionen Franken kosten.

Die wirtschaftliche Standortattraktivität der Schweiz könnte erheblich leiden. Investitionen in industrielle Arbeitsplätze, in innovative Start-up-Unternehmen und in Headquarterfunktionen stehen damit in Gefahr.

Die ohne Abkommen benötigten Massnahmen für den Import von Medizinprodukten könnten überdies ausländische Lieferanten abschrecken. Umfragen von Swiss Medtech zeigen, dass rund jedes achte Medizinprodukt in der Schweiz nicht mehr verfügbar sein wird. Dies mit entsprechenden negativen Folgen für die medizinische Versorgungsqualität in der Schweiz. Auch die Patientinnen und Patienten in den EU-Ländern werden ohne Abkommen direkt leiden, da Lieferungen aus der Schweiz behindert werden.

Hohe Kosten entstehen

«Die letzten zwei Jahre haben Swiss Medtech und seinen Mitgliedern enorm viel abverlangt. Die Branche hat sich mit beispiellosem Einsatz so gut wie möglich auf die erhöhten Anforderungen für den Warenexport in die EU vorbereitet», sagt Biedermann. Dazu gehören im Wesentlichen die Benennung eines Bevollmächtigen im EU-Raum, der stellvertretend Herstelleraufgaben inklusive Produktehaftung übernimmt, sowie die entsprechende Neubeschriftung der Produkte (Labeling).

Dies nicht ohne Preis: Der Administrationsaufwand zur Erfüllung der Drittstaat-Anforderungen kostet die Schweizer Medizintechnikindustrie initial schätzungsweise CHF 114 Mio. und jährlich wiederkehrend CHF 75 Mio. Diese Kosten entsprechen 2 Prozent bzw. 1.4 Prozent des Exportvolumens (CHF 5.2 Mrd.) von der Schweiz in die EU.

Verlust an Attraktivität

Der Präsident von Swiss Medtech, Beat Vonlanthen kommentiert: «Über die gesamte Schweizer Medtech-Branche betrachtet, sind die reinen Administrationskosten verkraftbar. Uns sorgen vielmehr der Verlust der Standort-Attraktivität und die damit verbundenen, negativen Konsequenzen. Für aussereuropäische Firmen etwa, die ihren Hauptsitz in Europa stationieren wollen, verliert die Schweiz gegenüber EU-Ländern aufgrund der Drittstaat-Bürokratie massiv an Investitions-Attraktivität. Sorgen bereitet uns auch, dass Schweizer Startups ihren Sitz anstatt in der Schweiz vermehrt in der EU ansiedeln könnten. Wer also lediglich feststellt, die Administrationskosten seien verkraftbar, verkennt völlig, wie hart der internationale Konkurrenzkampf ist.»

Beat Vonlanthen, Präsident Swiss Medtech (Swiss Medtech)

An der aktuellen Situation gibt es nichts zu beschönigen: 2002 konnten dank den Bilateralen I technische Handelshemmnisse zwischen der Schweiz und der EU abgebaut und der gegenseitige Markzugang gesichert werden. Nun hat die Schweiz diese Errungenschaft für einen volkswirtschaftlich bedeutenden Industriezweig mit 63’000 Beschäftigten und 1’400 Unternehmen verloren. Für Vonlanthen ist deshalb klar: «Der Verband wird sich mit ungebrochenem Engagement dafür einsetzen, dass das MRA möglichst rasch aktualisiert wird und die Beziehungen der Schweiz mit der EU auf eine solide und dauerhafte Grundlage gestellt werden.»

Übergeordnetes Interesse Patientenversorgung

Swiss Medtech nimmt enttäuscht zur Kenntnis, dass sich die Schweiz und die EU bis heute nicht auf eine gemeinsame Interpretation des geltenden MRA und entsprechende Übergangsbestimmungen für Medizinprodukte mit Altzertifikaten (MDD-Produkte) geeinigt haben. «Wir hoffen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. An einer pragmatischen Lösung, um die lückenlose Patientenversorgung in der Schweiz und in der EU aufrecht zu erhalten, müssen beide Seiten interessiert sein. Ich erwarte von der Politik, dass sie die Gesundheitsversorgung ihrer eigenen Bevölkerung über verhandlungstaktische Interessen stellt», sagt Vonlanthen.

www.swiss-medtech.ch

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